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"Dann fahrn' wir übern See" - Recreationale Ausflugstherapie zum See (Strausberg/ Fähre)

Aktualisiert: 1. Dez. 2021

Stand: 01.12.2021

Jetzt fahrn wir übern See, übern See Jetzt fahrn wir übern Jetzt fahrn wir übern See, übern See Jetzt fahrn wir übern See

Mit einer hölzern' Wurzel Wurzel, Wurzel, Wurzel Mit einer hölzern' Wurzel Kein Ruder war nicht

Mit einer hölzern' Wurzel Wurzel, Wurzel, Wurzel Mit einer hölzern Wurzel Kein Ruder war nicht dran

- Kinderlied, Ausschnitt


Dieses Abenteuer Ende August 2021 unserer Ausflugstherapie ging gen Strausberg in Brandenburg. Ich überließ die Vorbereitung diesmal meinem Kollegen. Ich war noch nie in Strausberg und manchmal denke ich wirklich, dass Berlin und Brandenburg, gerade in östlicher Richtung, noch unfassbar viel für mich und auch unsere Ausflüge zu bieten hat. Manche "Dörfer" am Rande Berlins und dann rein nach Brandenburg wollen noch weiter erkundet werden.

Leider konnte eine Bewohnerin, die sonst gerne mitkommt, nicht mit. Immer mal wieder überkommt sie eine große Traurigkeit in Schüben, in der sie sich am liebsten "vergraben" möchte. Und diesmal erwartete sie ein für sie wichtiger Besuch. Da die Bewohner*innen aus freien Stücken wählen dürfen, ob sie mitkommen wollen oder eben nicht - ging es nach einem Ordnen der Gedanken dann und diesmal nicht mit. Spontan sprang ein anderer Bewohner ein und nach längerem Anziehen und Hin- und Her, einem Vergessen, was man gerade wollte und beständig liebevoll dranbleiben und erinnern, ging es los.


In Richtung Strausberg kommt man an zahlreichen Mühlen vorbei und auch an schönen Landschaften. Zur Strausberger Fähre holperten wir mit dem Bus durch den schön grünen Wald wie durch eine Safari oder auch eine Achterbahnfahrt. Wir wurden heiter durchgerüttelt, was auch mal recht angegehm ist. Ein interessantes Körper- und v.a. Bauchgefühl.


Als wir an der Fähre - an der Waldseite - ankommen, kommt es mir wie ein Geheimplatz vor. Nur Insider kennen sich hier aus. Was sicher nicht ganz stimmt. Ich helfe den Bewohner*innen aus dem Bus. Ein Bewohner muss etwas langsamer machen, da ihm etwas schwindlig ist (nach dem Geschaukel im Bus). Ich frage, ob er mehr Unterstützung braucht - hake ihn und auch einen anderen Bewohner unter. Wir laufen langsam über den Weg. Die beiden Männer links und rechts und ich in der Mitte eingehakt. Da wir ein Stück durch den Wald laufen müssen, erinnere ich daran, sorg- und behutsam zu laufen. Der Waldboden ist keine Asphaltstraße und tendenziell uneben. Dennoch insgesamt und für einen Waldboden recht eben. Eine Bewohnerin mit skandinavischen Wurzeln ruft uns zu, dass sie den ersten Pilz gesehen hat. Sie zeigt ihn uns. Sie kennt sich gut aus in der Natur. Was mir gerade in diesem Moment so gut gefällt ist, dass wir alle ganz wach, ganz da zu sein scheinen. Wir zeigen uns, was wir wahrnehmen - eine Achtsamkeitsübung, die wie von selbst durch die Bewohner*innen geschieht. Wir nehmen Pilze, Bäume, Wurzelwerk, Sträucher und auch andere Düfte wahr. Das Laufgefühl ist anders. Wir alle laufen langsam und bewusst. Und mein Kollege benennt Bäume und Besonderes, was uns vor die Augen kommt. Das Benennen der Dinge ist schön - ein sich bewusst machen, was um einen herum ist. Denn auch ich habe meine Lücken in vielen Themen rund um die Natur (und anderswo) und gehe da frei mit Sokrates mit, der wusste, dass er nichts wusste.


Die Fähre ist eine oberirdisch betriebene Elektrofähre. Sie sieht aus wie eine Trambahn, nur dass sie uns über'n See bringt. Das Wetter ist dafür sehr geeignet - ein spannender Himmel, durchzogen von Sonnenstrahlen. Die Stimmung ist ausgelassen.


Ich im Bild - also, muss ich dagewesen sein


Bevor die Fähre kommt, nutze ich die Zeit, ein Selfie (ein Groupie :) von uns und auch ein Gruppenphoto zu machen. Es wird sich später herausstellen, dass gerade die Bilder mit den Menschen als Porträt in der Landschaft/ Natur/ Kultur hängenbleiben. Die Bilder werden wichtig für eine Selbstvergewisserung. Wir sind jetzt da, machen ein Bild: Das Bild bleibt, die Erinnerung geht. Aber das Bild erzählt davon, dass man weg, also woanders war. Langsam kommen so Erinnerungen wieder - etwas mehr vom Leben, vom lebendigen Augenblick - bleibt haften. Das ist trainierbar und unser Gehirn ist neuroplastisch. ich bin gespannt, was bei den Bewohner*innen anhand der Ausflugs-Bilder mitsamt den wahrnehmbar sinnlichen Erfahrungen hängenbleiben wird.


Umgang mit Stress: Harmonie ist wichtig für ein gutes Selbst- und Gruppengefühl


Ich verstehe auch immer mehr, wie wichtig Harmonie in der Gruppe ist. Wenn alles gut ist, es (relativ) leicht ist und einfach gut tut wie Balsam. Wenn Stress aufkommt, wird es bisweilen schon schwierig(er). Mit Stress umzugehen ist für den einen oder anderen Menschen mit alkoholbedingten amnestischen Syndrom nicht (mehr) so einfach (für Ottonormalverbraucher aber auch nicht). Manche Bewohner*innen haben gute Strategien entwickelt und halten sich durch Chillen, auch Rauchen und damit Rituale, stabil. Denn Rauchen suggeriert, dass man jetzt Pause machen kann. Aber man "überfordert" sich schnell, weil man sich selbst überschätzt und nicht klar ein Ja! oder auch ein Nein! kommunizieren kann. Man fällt auf sein altes Ich, seine Persönlichkeit vor der Behinderung, herein. Vorher ging doch alles - warum nur jetzt nicht mehr?


Nun geht's auf die Fähre. Da man auf den Boden gucken muss, weil man gegebenenfalls stolpern könnte - beim Übergang vom Festland auf die Fähre ist etwas Vorsicht geboten - versuche ich auch hier für mehr Bewusstsein diesbezüglich zu sorgen. Sich sorgen (take care/ caring - von lat. carus - lieb, teuer) ist überhaupt ein Umstand, der mir einfällt, wenn ich mein Verhalten reflektiere. Ich verhalte mich wie eine "Mutter", die sich beständig darum sorgt, dass ihre ihr Anvertrauten ein Bewusstsein für die Umgebung entwickeln - ein Mitdenken und auch ein vorausschauendes, antizipierendes Denken und Handeln.


Sich sorgen/ take care - Ich möchte das mal mehr hinterfragen


Ich hinterfrage auch meine mögliche (Über-)Fürsorge. Auch mein Vertrauen in die Situation, den Kollegen und auch in die Bewohner*innen und ihre natürlichen Ressourcen. Da ich selbst keine Mutter von Kindern bin, agiere ich etwas überfürsorglich. Die Bewohner*innen sind teilweise recht ruhig. Der Boden verändert sich. Obwohl wir auf einer stabilen Fähre sind, fahren wir über einen See und müssen uns festhalten. Sie suchen sich einen Platz, halten sich gut fest. Die Kommunikation kommt eher von uns Therapeut*innen. Einzig die Bewohnerin mit den skandinavischen Wurzeln steht auf Deck: Sie kennt Wind, Wasser und Boot. Sie steht wie eine stolze Kapitänin und ich mache von ihr ein Bild, das ihr auch bleiben wird. Ein guter, starker Moment. Eine Bewohnerin zieht sich aufs Wasser schauend zurück; will für sich sein. Auch das bemerke ich.


Wie steht es um die Freiräume? Lasse ich genug Freiraum?


Auch das möchte ich mal mehr reflektieren. Denn, was gilt es denn überhaupt zu erreichen in diesem Moment? Die eigenen Freiräume sind wichtig und mir wird das gerade beim Aufschreiben sehr klar. Auch für mich gibt es noch viel zu lernen. Dass ich, oder überhaupt der Therapeutin-Anteil in mir, zu viel will und eigentlich auch noch bisweilen langsamer und weniger (ist mehr) machen kann. Es passiert ja schon so viel Sinnliches, von Moment zu Moment. Wir kommen langsam am Festland an. Links und rechts von uns eine große Schwanenfamilie mit zwei großen, weißen und grauen, kleinen Schwänen, die mutig mit dabei ist und uns begleitet. Vielleicht ein Vorbild zum Thema "Familie". Einfach mal mehr Vertrauen haben.

In Strausberg angekommen laufen wir die Uferstraße in die Stadt - verweilen einen kurzen Augenblick - begutachten die gut gepflegten Straßen mit Blumen an den Häusern und auf den Verkehrsinseln. Hier hat man sich Mühe gegeben, es schön sein zu lassen. Ich mache ein Bild von einem Bewohner auf einem Buchstaben am Boden. Er weiß, wie er stehen muss. Er ist wohl früher entweder gerne fotografiert worden oder er weiß einfach wie man günstig für Photos stehen muss.

Der Rückweg zur Fähre verläuft heiter und komplikationslos.


Dann fahren wir wieder durch den Wald - leicht auf und ab fliegend - zurück zur Hauptstraße. Vorbei an alten verfallenen und wie verwunschenen Gast- und Villenhäusern, von denen unser Arbeitstherapeut wieder Geschichten zu erzählen weiß. DDR- und BRD-Geschichte wird fühl- und erfahrbar. Ich freue mich, dass ich teilhaben darf an Geschichte.


Unseren Lunch nehmen wir auf einem Waldrastplatz ein. Die Bewohnerin aus Skandinavien findet einen Knopf mit einem Schiff - ein schönes Sinnbild und passend zu ihrem Porträt-Bild und Erlebnis - als einzige, mutig vorne stehend an Deck.

Ich freue mich jedes Mal auf's Lunchen. Gemeinsam Essen tut Körper, Geist und Seele gut. Ein sinnliches Erleben: Und wir reichen uns gerne belegte Toasts, Kekse, Bananen, Apfelsafttetrapacks. Auch das wird mir gerade klar: Wie schön das sich Reichen von Speisen ist. Fast wie das Brechen von Brot. Fast ein wenig sakral-feierlich.

Auf der Rückfahrt zeigt uns unser Arbeitstherapeut noch eine inspirierende Institution: Die "Kräuterlounge" - ein Landwirtschaftsbetrieb, der seltene Heilpflanzen, Kräuter und Gewürze vertreibt. Der Inhaber zeigt uns die Pflanzenvielfalt und reißt uns mit seiner Begeisterung mit - sein Engagement ist spürbar. Für eine Bewohnerin allerdings war es zuviel des Guten. Sie blieb im Bus, wollte nicht mit. Wirkte auch gereizt auf Ansprache. Danach im Bus zeigten wir uns unsere kleinen Pflanzenerwerbungen und sprachen darüber, was wir sinnlich - duftend und tastend - erlebt haben. Sie blieb still. Jede*r darf sein, wie er will. Obwohl mich das Stress-Phänomen manchmal auch etwas ratlos zurückläßt. Es ist phänomenal und bisweilen nicht klar ersichtlich, wo das Zuviel! war. Ich würde gerne lernen, es besser machen. Doch manchmal weiß ich nicht recht, wo ich ansetzen soll. Manche Bewohner*innen können recht gut für sich sorgen - Ja! und Nein! sagen. Doch manche können es eben noch nicht oder nicht mehr. Ich lasse mal offen. Und bleibe weiter erlebend und reflektierend dran. Und will mal noch mehr beobachten.


Ich lerne gerade auch, dass ich zum einen nicht ganz so "mütterlich" oder auch überfürsorglich auftreten muss. Ich gebe mir Mühe, das reicht. Ein Über-Engagement ist nicht erforderlich. Und wenn mal etwas passiert, dann gehen wir damit um. Für mich gilt es, den Druck rauszunehmen. Mein Kollege ist da eher die Ruhe selbst. Er wirkt vorbildhaft - wie auch einige der Bewohner*innen. Gechillt. Für mich ist das manchmal nicht ganz so einfach. Ich baue darauf, dass es mit Übung und mit der Zeit leichter wird. Ich möchte aber auch weiter daran arbeiten, gelassener zu werden. Was passiert, das passiert. Und mehr als Mühe geben und bewusst präsent sein und handeln, kann ich auch nicht.


Leben ist alles - Freud und Leid


Ein wesentliches Fazit ist, dass auch Leid - Gereiztheit, stressige Momente, dazugehören. Genauso wie Pausen und Muße und "Einfach-mal-gut-sein-lassen". Alles richtig machen kann man auch nicht - es geht um lebendige Erfahrung. Auch wenn mir unsere Bewohner*innen manchmal hochsensibel und wie "fragile Eier" erscheinen, die man adäquat - liebevoll und behutsam - behandeln muss. Das ist das Leben - unberechenbar aber auch voller Überraschungen.


"Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen.

Man weiß nie, was man kriegt."

- Film-Zitat aus Forest Gump






Weitere Begleitung - immer am roten Faden entlang


In der Residenz arbeiten wir im Team mit noch einer anderen Kunsttherapeutin-Kollegin assoziativ an den Themen weiter. Es sind Themen, die sich wie natürlich im Laufe der Arbeit ergeben und somit nachvollziehbar und rückschaubar sein sollen. Meine Kollegin malt und collagiert u.v.m. vor Ort in der Werkstatt in der Seniorenresidenz und bereitet es zumeist mit assoziativen Themenstellungen mit nach. Wir arbeiten hier mit Übergabe Hand in Hand und unterstützen uns gegenseitig.


"Ausfliegen - Ausflüge!" - unsere erste Ausstellung 2021


Unsere erste Ausstellung "Ausfliegen - Ausflüge!" zeigt daher Digitalbilder von den Ausflügen und Werke der Bewohner*innen, die passend dazu in unseren Settings vor Ort entstanden sind.

Was von Anfang an mit dabei ist, ist das Ausdrucken und dann Aushändigen von Digitalbildern des Ausflugs an die Bewohner*innen. Eine kleine Übersichts-Collage wird ins rote Projekt-Heft geklebt - mitsamt Datum und Ausflugsziel. Manche/r der Bewohner*innen können das schon recht gut - findet das Heft, bringt es mit und klebt ein. Doch bei manchen ist genau das eine Hürde. Wo ist es nur? Wo hatte ich es zuletzt? Ich hatte auch an fünf Teilnehmer*innen eine kleine transparente Plastikkiste ausgegeben, in der das rote Heft mitsamt auch anderen Kreativmaterialien gelagert werden sollte. Manchmal bitte ich die Pfleger*innen es mitzusuchen, wenn es lange unauffindbar war.


Unabhängig davon vergebe ich Bild-Geschenke. Bilder, die den Bewohner*innen etwas bedeuten. Für sie und die gute Ordnung habe ich weiße Hefter ausgeteilt. Und so mancher Bewohner hält sich an diese Idee mit der Ordnung.

Das Fazit daraus ist eine Freude an den ästhetischen Erfahrungen und sinnlichen Erlebnissen, die so leichter, weil sie mit emotional schönen/ inspirierenden Erlebnissen verbunden werden, erinnert werden können. Mehr, als wenn es diese komplexe Erinnerungs-Arbeit nicht gäbe.


Gelingen und Erfolge wertschätzen und immer wieder ermutigen, weiterzumachen


Auch hier gilt es liebevoll dranzubleiben, den Druck rauszunehmen und sich über jeden noch so kleinen Erfolg und Gelingen zu freuen und ihn wertzuschätzen.


Das rote Projekt-Heft soll und darf vielfältig genutzt werden. Doch wo ist es nur wieder?

Beispiel für ausgedruckte Digitalbilder- Impressionen und Bewohner*innen - der weiße Hefter und ein Beispielbild für eine Ausstellung (hier: The cast whale projekt by Gil Shachar, St. Elisabeth-Kirche).



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