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Krafttier Trauermücke - Oder wie wir nach Trauer unser ureigenes Strahlen zurückerobern

Autorenbild: Kunst & Muße - BLOGKunst & Muße - BLOG

Aktualisiert: 23. Dez. 2024



Wenn man heilt, wenn etwas Kaputtes in einem heilt, kommt etwas sehr zartes Neues hervor. Ein Pflänzchen. 

Frau Kunst

 

Zum Countdown am Ende des Jahres 2024.


Eine Art alte Sehnsucht nach dem, wie es früher nie war und nie sein durfte. Es ging nicht. Die Menschen, die da waren, konnten nicht anders. Sie hätten einem dafür die Tür aufmachen helfen müssen. Doch sie selbst waren Gefangene ihrer Umstände, ihrer Ängste. Ich meine da konkret, in meiner Geschichte, meine finnische Mutter. Geboren Anfang der 40er Jahre. Ich bin eine halbe Finnin. 

Doch lange kam ich da nicht ran. Die Tür blieb zu. Ich durfte irgendwie nicht auch Finnin sein, als wäre ich „verwunschen“. Ein Schamgefühl, es nicht wert zu sein, und Schuldgefühle, das Finnischsein nicht zu können, als prägendste Gefühle. Diese Gefühle hielten die Türe lange zu. „Du kannst ja nicht mal Finnisch“ war ein herabwürdigender Satz meiner Mutter, der lange in mir wirkte.


Finnland in den 70ern

Finnland galt in der deutschen Kleinstadt, als ich in den 70ern geboren wurde, als ein zu kleines Land. Die finnische Sprache war zu „unwichtig“, zu fremd. Englisch und Französisch galten als lernenswert. Welch’ Hybris. Aber so war die Denke der (meiner) Zeit. Meine Mutter kam zum Studieren nach Deutschland. Eigentlich war sie ein Künstlertyp, ein Wildfang. Gleichzeitig gefangen in ihrer Unsicherheit und in ihrem ansprüchlich-einseitigen Frauenbild der Hollywoodstars á la Marilyn Monroe. Und in einem engen spirituellen Glaubensgebäude. Sie baute sich in Deutschland ein neues Ich-Ideal auf, das ihr lag, das auch gut beim Publikum ankam. Eine unnahbare Schönheit und Femme Fatal. Eine hochbegabte Akademikerin und begnadete Ärztin. Leider wusste sie nicht, wer sie wirklich war. Sie besaß eine extrinsische Motivation und musste auch einen wesentlichen Teil von sich selbst verleugnen: Ihre finnische Identität.  


Finnisch war geheim

Ich lernte meine Muttersprache nicht. Finnisch wurde bei meinen Eltern als eine Art Geheimsprache benutzt. Meine erste, entscheidende Zeit möchte ich mal als „emotional abandoned“, also emotional vernachlässigt, bezeichnen. Das kleine Mädchen passte nicht wirklich zu ihrem Ideal der begehrenswert unnahbaren Femme Fatal. 

Auch lernte ich die finnischen (Kinder-)Lieder und Traditionen nicht kennen. Ich habe später dreimal angesetzt, Finnisch in Berlin zu lernen. Es ging nicht. Wie eine vermaledeite Verwünschung kam ich an meine finnischen Wurzeln nicht ran. Wie abgetrennt, dissoziiert, weg. Ich fühlte mich lange so eigenartig verloren. Als würde mir was Entscheidendes fehlen. Gerade bei der Sprache, beim authentischen Selbst-Ausdruck. Wie ein Griff ins Leere, ins Nebulöse.


Sisu

Doch da ist mittlerweile etwas Uriges in mir. Durch all die Schicksale und Verlusterfahrungen meines Lebens, kehrt es sich heraus und stülpt sich nach vorne. Ich habe dieses finnische, sagenumwobene „Sisu“. Dieses schwer übersetzbare finnische Wort einer den FinnInnen zugesprochenen Charaktereigenschaft, die etwas mit "Durchsetzungskraft", "Dranbleiben" und "Zähigkeit" - mutig durch die Widrigkeiten des Lebens hindurch - zu tun hat. So ein tiefsitzendes Urding. Und diese eigenartige Sehnsucht, die mich wie „nachhause“ - zum finnischen See mit seinen Inseln und dann zum "Schwan von Tuonela", zurückbringen will.




Ein inneres Bullerbü

Nun ist meine finnische Mutter schon einige Jahre tot. Sie starb klammheimlich kurz vor Corona. Mein Vater folgte ihr zwei Jahre später - wie magisch angezogen - nach, obwohl er gerne noch etwas länger auf Erden geblieben wäre. Und mir wird es durch meine kontinuierliche Arbeit an mir und meiner Geschichte, durch mein „Sisu“, immer etwas leichter. Obwohl es mich bisweilen in Wellen, noch innerlich wütend, wie zerreißt. In mir keimt diese Idee von einem „innerlichen Bullerbü“ und will heranreifen. Und gerade zur Weihnachtszeit möchte ich „Bullerbü“ erleben. Die Idee, dieses Ideal von Astrid Lindgren ist so schön warm, authentisch, kindgerecht und lustig. Schritt für Schritt und mit Bedacht baue ich Vergangenes, allzu Trauriges und altes Wütendes - dieses Gefühl, nicht adäquat auf das Leben vorbereitet worden, irgendwie halb und unvollständig, fast erfroren, unbemuttert und wie falsch zusammengesetzt zu sein - ab. Und baue gleichzeitig Neues und Wärmendes auf.


Es ist schließlich mein Leben! Das habe ich begriffen. Das ist mein Job als Erwachsene heute. Und das bin ich meiner "inneren Kleinen", die es ja heute noch als Anteil lebendig in mir gibt, wirklich schuldig. Es ist, frei nach dem finnischen Psychiater Ben Furman, nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Da lohnt das Dranbleiben mit "Sisu". Die emotionalen Wellen - der Unleidlichkeit, der Wut, der Traurigkeit und dem Verlassensein - aber auch der überschäumenden Lebenslust - lebendig reiten zu lernen. Wahrscheinlich bis zum Ende meines Lebens. Daran glaube ich ganz fest.


Das Pflänzchen hegen

Das Neue ist das Pflänzchen. Ich hege und pflege es. Bleibe liebevoll dran. Auch bei Rückschlägen. Letztes Jahr noch bin ich gleich wieder am Weihnachtstag krank geworden. Konnte nicht weiter mit meinen Lieben feiern. Hütete das Bett. Altes Muster. So habe ich mich oft rausnehmen können. Kranksein war (und ist noch) wie ein guter, alter Freund. Stets zu Diensten. Beschützt(e) mich vor meiner unleidlichen Wut und dahinterliegenden großen Traurigkeit. Einer großen Kraft.


Dieses Weihnachten will ich weiterhin „Bullerbü“ in mein Leben holen. Eine Freundin, selbst Finnin, lud mich zum finnischen Weihnachtsliedersingen ein. Die Scham griff wieder nach mir. Wollte mir erzählen, ich wäre nicht „ganz“. Könne nicht Finnisch und schon gar nicht finnische Weihnachtslieder singen. Ich wäre es nicht wert, dazuzugehören. Doch jemand Munteres in mir sagt mir mittlerweile, dass ich gut genug bin und mitmachen möchte. Das Dabeisein tat so gut. Ich liebe den Klang der finnischen Sprache. Und finnische Lieder können so herrlich mollig melancholisch sein. Per Zufall kaufte ich dort zwei blau-weiße Kerzen. Eine finnische Verwandte, die zu mir Kontakt aufgenommen hat nach dem Tod ihres Bruders, zeigte mir, dass diese beiden Kerzen zum Unabhängigkeitstag Finnlands (fin. itsenäisyyspäivä), am 06. Dezember, im Fenster, entzündet werden. Das musste ich auch gleich machen. Meine eigene finnische Unabhängigkeit, heißt Freisein oder doch zumindest das Freiwerden (versuchen), feiern. 




Krafttier Trauermücke 

Aber das Skurrilste derzeit sind diese Trauermücken. Schon der Name „Trauermücke“ hat es in sich. Mein neues Krafttier. Nicht gerade so heroisch wie ein Adler, ein Löwe oder meine Einhörner, mitsamt Einhornpegasuspferd. Meine Trauermücken haben sich in der Jukkapalme meines verstorbenen Vaters eingenistet, die ihm wahrscheinlich meine Mutter geschenkt hat. Sie liebte Kakteen und Palmen. Trauermücken sind sehr lebenskompetent und echte Überlebenskünstler. Sie sind so pfiffig, dass man sich lange mit ihnen beschäftigen muss. Sie sind berühmt und berüchtigt wie Piraten in der Karibik. Kein Mensch, mit dem ich über sie sprach, mochte sie gerne leiden. Schade eigentlich. In der Natur sind sie in einer wichtigen Nahrungskette mit drin. Heute habe ich mir ein Herz gefasst und Hydrokultur besorgt. Einmal umtopfen und Erde wechseln, hat die schlauen Viecher nicht vertrieben. In diesem Zuge habe ich die Jukkapalme und auch die Strahlenaralie mit den trockenen Kügelchen versorgt. 


Sinnbild Strahlenaralie 

Die Strahlenaralie habe ich mal an einem „Julklapp“ bekommen. Jemand hat sie mitgebracht, weil er ihren depressiv hängenden Anblick nicht ertragen konnte. Die anderen wollten sie nicht. Dann erbarmte ich mich. Sie lebte schon seit dieser Zeit in einem zu kleinen Topf. Und jetzt erst kaufte ich ihr einen neuen großen Topf. Doch die irre groß gewordene Pflanze hatte sich so an die Enge des Topfes gewöhnt, dass ich sie nicht mehr aus dem Keramik- und auch Plastiktopf rausbekam. Ich musste den Keramiktopf mit dem Hammer zerschlagen. Und den Plastiktopf mit einer Gartenschere wegschneiden. Eine richtige Operation. Jetzt müssen wir uns alle drei - die Jukkapalme, die Strahlenaralie und ich - erholen. Das erinnert mich an die Geschichte von Jorge Bucay aus dem Buch "Komm, ich erzähle dir eine Geschichte" - mit dem Elefanten, der als kleiner Elefant an einen Pflock angebunden wurde. Und als erwachsener, stattlicher Elefant, immer noch apathisch neben seinem Pflock stand. Obwohl er ihn nur aushebeln müsste. Er ist groß. Doch er weiß es (noch) nicht. Er darf es lernen.





Das Außen als Spiegel des Inneren

Ich gehe ja davon aus, dass das, was mir (und uns Menschen) im Außen geschieht, eine Art Spiegel für mein (unser) Innenleben sein könnte. Durch die geerbte väterliche Jukkapalme kommen supergut ausgerüstete Trauerwesen in mein Leben und zwingen mich zur Erinnerung an meine Verstorbenen und damit Vergangenheit. Gleichzeitig bekommen die lebendigen Pflanzen eine neue Basis. Die Strahlenaralie war mal sehr wie ich. Ich war viele Jahre knacke depressiv - nahm das alles hier viel zu ernst, zu persönlich und hielt mich selbst klein (machte mich nieder, konnte mich nicht wertschätzen, sah nur das Unvermögen und die Schwächen).


Jetzt ist mein Topf zu klein geworden. Die Zeit macht alles neu, wenn man bereit dafür ist und mit „Sisu“ dranbleibt an sich. Ich erfinde buchstäblich das Rad bzw. den Topf - meine Basis - neu. Bin dran an meinem Leben. Kümmere mich beherzt um mich und meine Angelegenheiten.


Brauche nun mehr Raum in mir für neue schöne Ideen, für mehr bunte Freiheit und Frieden. Und mein inneres und äußeres, friedvoll heiteres „Bullerbü“, will von mir erkundet werden. Es warten noch so viele finnische Gebräuche, Weihnachtslieder, auch finnische Menschen und überhaupt das „Bullerbü des Lebens“ auf mich und meinen Einsatz! 


Nun, das Pflänzchen ist eine stattliche Pflanze geworden, die gehegt und gepflegt werden will. Ich lasse mich als Strahlenaralie wachsen. Und wenn ich das gut mache, hat das eine schöne Ausstrahlung auf die Welt, in der ich lebe.


Daran glaube ich auch ganz fest. Ich bleibe dran.


Dafür mache ich das: Dass andere auch über ihren Topf hinauswachsen wollen. Das hätten meine Eltern sicher auch gut gefunden.

Dann sind wir immer mehr fröhlich wachsende Pflanzen auf Erden, die einander anstrahlen! 


Hyvää Joulua ja onnellista uutta vuotta!

Fröhliche Weihnachten und ein glückliches neues Jahr 2025!


 

Herzlich Frau Kunst 

Trauermückenfachfrau, personifizierte Strahlenaralie, Piratin der finnischen Meere und Elfen und Troll-Beauftragte Finnlands 


Danke!

Mein liebster Dank geht an die wundervolle Susanne Heinen artCOUNSELING. Ohne sie und ihre schöne Initiative, auf ihrer Website einen Adventskalender mit vielfältigen Blog-Artikeln von inspirierenden BloggerInnen, aufzufächern, hätte ich mich diesem Artikel, und damit einem wertvollen, inneren Prozess, nicht wirklich gestellt. Herausforderung wieder angenommen!



Literatur/ Informationen zum Weiterforschen:


  • Lindgren, Astrid: Kinderbuchreihe "Wir Kinder aus Bullerbü", Verlag Oetinger.

  • Muttersprache: https://idw-online.de/de/news809626

  •  Phänomen Dissoziation und Kinder/ Beitrag von Luise Reddemann (Download am 19.12.2024):



  • Furman, Ben: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben, Verlag Modernes Lernen.

  • Bucay, Jorge: Komm, ich erzähle dir eine Geschichte. Fischer Verlag, 2007.





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