Oder wie wir mit unserer inneren Kleinen die Zeit der Weihnacht neu entdecken
Gleichgewicht
Hilde Domin
Wir gehen
jeder für sich
den schmalen Weg
über den Köpfen der Toten
- fast ohne Angst -
im Takt unsres Herzens,
als seien wir beschützt,
solange die Liebe nicht aussetzt.
So gehen wir
zwischen Schmetterlingen und Vögeln
in staunendem Gleichgewicht
zu einem Morgen von Baumwipfeln
- grün, gold und blau -
und zu dem Erwachen der geliebten Augen.
Die Große und die Kleine
Ich möchte ehrlich sein. Ich schreibe diesen weihnachtlichen Blog-Artikel nicht als Therapeutin, Coach oder als jemand, der es besser wüsste und einen Fahrplan anzubieten hätte. Ich schreibe ihn als Mensch-Gegenüber auf Augenhöhe - mit einer eigenen Geschichte mit jahrelanger Depression. Und ich bin selbst am Forschen, wie es jeweils gehen kann. Meine innere Kleine - das kleine Mädchen mit dem gelben, juckigen Kleid in mir - ist nach vielen Jahren persönlicher Arbeit zu mir gekommen und geblieben. Was ich nach all der Zeit und Mühe sagen kann, ist: Dranbleiben an sich selbst lohnt. Um mit sich selbst befreundet und damit liebevoll verbunden zu sein. Weil wir so auch wieder zu uns Menschen und unserem miteinander Verbundensein zurückfinden.
Dunkel außen wie innen
Advent. Weihnachten. Ja, bald. Alle Jahre wieder. Jahrelang war es ungut um mich in dieser besonderen Zeit. Meine zyklische Depression packte mich jedes Jahr verstärkt, wenn es dunkel wurde. Begann im November und währte oftmals bis Februar. Wie ein Winterschlaf, der mich heimsuchte. Dunkelheit im Außen - Dunkelheit, Leerstellen im Inneren. Ich erinnere und besinne mich.
Traurig sein dürfen
Heute sehe und fühle ich das immer noch und bin angerührt. Das kleine, vor allem emotional vernachlässigte Mädchen von damals, das sich so unsagbar einsam und alleingelassen fühlte - wie ein Waisenkind - und fröhliche Lieder singen sollte, obwohl es sich so mutterseelenallein anfühlte. Eigentlich waren die Anderen um sie herum auch irgendwie traurig. Sie hätte gerne ehrlich über die Traurigkeit gesprochen. Es war schwer auszuhalten. Viele waren traurig. Keiner sprach darüber. Man sollte, wie auf Knopfdruck, froh und munter sein. Es ging nicht. Leere. Nichts.
Der kleine Stern
Das kleine Mädchen von damals gibt es heute noch. Sie will wahr- und mitgenommen werden. Ich kenne sie mittlerweile gut. Frage sie, was sie braucht. Sie ist irgendwann bei mir geblieben. Ich bin die Große, sie die Kleine. Alles ganz behutsam. Ein nicht zu viel. Sie sagte mir neulich, dass sie gerne einen Stern hätte. Sie möchte in der Dunkelheit sitzen und doch dabei einen leuchtenden Stern haben. So einen mit vielen spitzen Zacken, wie der hell glitzernde Venus(-abend/morgen-)stern. Nur in klein. Einen großen Stern mit Zacken haben wir schon. Nun gibt es zwei Leuchtende, wie Mama und Kind.
Das geheimnisvolle Schloss
Ich nehme die innere Kleine ernst. Sie möchte mehr Licht in der Dunkelheit haben. Wir beide stellen uns vor, dass wir in einem geheimnisvollen Schloss leben, durch das wir zusammen stromern. An den Fenstern leuchten die Sterne. Ein (unechtes) Kaminfeuer knistert - das Geräusch mag sie gerne. Es wärmt sie und erinnert sie an Finnland. Das Schloss hat viele Türen, Räume, Lichter - Möglichkeiten. Wie im kleinen Lord von Frances Hodgson Burnett, im Schloss des adligen, anfangs mürrischen Großvaters.
Der leisen (inneren) Stimme lauschen
Ich kümmer' mich um sie. Sie ist bei Allem dabei. Sie sagt, was sie gerade braucht. Ich bin wach für sie. Bin die Große. Sie ist die Kleine. Sie ist in meiner Obhut und ich möchte, dass sie sich warm, im Vertrauen und beschützt fühlen kann. Daher muss ich wach sein und bewusst bleiben. Wach für diese innere, eher leise Stimme, die zaghaft zu mir spricht. Ich gebe ihr den Raum und die Zeit, die sie braucht. Komme zu meinen Sinnen, pflege meine Sinnlichkeit. Besinne mich. Und finde den Sinn dahinter. Das kleine Mädchen in mir möchte es warm(herzig) haben und sich geborgen fühlen dürfen. Eigentlich einfach. Doch so richtig, geht es erst jetzt.
Ganz einfache Dinge genießen
Wenn ich genau hinhöre, hineinlausche, bekomme ich heraus, was sie braucht. Sie verriet mir neulich, dass sie z.B. ganz bewusst, einen großen schönen geschmückten Weihnachtsbaum betrachten und erleben will - wie er und es leuchtet und glitzert. Und das zusammen mit einem lieben Freund, mit dem man sowas besonders gut machen kann. Außergewöhnliche Momente mit wohlwollenden Menschen und einfachen Sachen erleben. Auch liebt sie es, wenn man einander sagt, wie gerne man sich hat. Neulich sagte jemand zu ihr (und auch mir, der Großen) "Du tust mir und uns gut". In der S-Bahn kullerten dann die Tränen vor Freude. Sie liebt das. Ich auch. Wir weinen dann zusammen und freuen uns. Wie ein innerer Regenbogen.
Das Erwachen der geliebten Augen
Hilde Domin, eine meiner Heldinnen, bringt es mit "Gleichgewicht" schön auf den Punkt. Wir gehen zu einem Erwachen der geliebten Augen - fangen an, uns zu erblicken. Wie auch der kleine Lord Fauntleroy aus "Der kleine Lord" es schafft, mit seiner fröhlichen und aufrichtigen Art, das Herz seines Großvaters zu erwärmen, um damit seine Augen zu erwecken. Und damit unsere Seele lebendig macht. Denn unsere Augen sind der Spiegel unserer Seele. Und unsere Seele ist unser Kraftwerk, frei nach dem Philosophen Wilhelm Schmid.
So sollten wir wach sein für unsere wahre, vielleicht leise innere Stimme (der Kleinen in uns) - die uns sagen will, was sie wirklich braucht, um sich liebevoll angenommen zu fühlen. Die dann fröhlich kichert, aufblüht, mich wiederum an der Hand nimmt, und sich so freut, einfach am Leben zu sein. Auch, weil doch ihr kleiner Stern jetzt leuchtet. Butterkekse mit bunten Steuseln mag sie auch. Alles sehr einfach, pur und vor allem ohne Drama, Schnickschnack und Aufwand.
Menschheitsfamilie
Und weil es doch so schön glitzert zur Weihnachtszeit. Ja, auch das Jesuskind in seiner Krippe in Bethlehem - ein Urtyp des göttlichen Kindes (wie ich es bei C.G. Jung und Karl Kerényi finde) - will uns dies vielleicht zeigen. Das göttliche Kind in uns, das das kindliche Staunen und die bedingungslose Liebe in die Welt bringen will. Im Außen brennen die weihnachtlichen Lichter und erleuchten die Dunkelheit, und im Inneren leuchten unsere (inneren Kinder-)Augen wieder.
Das gefühlte Waisenkind von einst, als das nun innere göttliche Kind und als innere, liebevoll wahrgenommene Kleine, fühlt sich als ein lebendiger und wertvoller Teil einer großen Menschheitsfamilie und damit eines großen Ganzen.
So gehen wir
zwischen Schmetterlingen und Vögeln
in staunendem Gleichgewicht
zu einem Morgen von Baumwipfeln
- grün, gold und blau -
und zu dem Erwachen der geliebten Augen.
Hilde Domin, Auszug
Danke!
Mein ergebenster Dank geht an die wundervolle Susanne Heinen artCOUNSELING. Ohne sie und ihre schöne Initiative, auf ihrer Website einen Adventskalender mit vielfältigen Blog-Artikeln von inspirierenden BloggerInnen, aufzufächern, hätte ich mich diesem Artikel, und damit einem wertvollen, inneren Prozess, nicht gestellt. Herausforderung angenommen.
Literatur/ Bücher zum Weiterforschen:
Wilhelm Schmid: Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Suhrkamp, 2007.
C.G. Jung/ Karl Kerényi: Das göttliche Kind. Edition C.G. Jung, 2012.
Frances Hodgeson Burnett: Der kleine Lord. Rütten & Loening; 4. Edition, 2015.
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