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"Hörst du wie die Brunnen rauschen" Die Alte Nationalgalerie auf der Museumsinsel als Erlebnisraum

Aktualisiert: 20. März 2022

Recreationale Ausflugstherapie mit Bewohner:innen einer Seniorenresidenz mit alkoholbedingtem amnestischen Syndrom (ICD 10). Ein Projekt im Rahmen des recreationalen Ansatzes der Kunsttherapie.


Muße. Musen. Teilhabe. Wohlbefinden.


Stand: 20.03.2022




Hörst du wie die Brunnen rauschen


Hörst du wie die Brunnen rauschen,

Hörst du wie die Grille zirpt?

Stille, stille, laß uns lauschen,

Selig, wer in Träumen stirbt.

Selig, wen die Wolken wiegen,

Wem der Mond ein Schlaflied singt,

O wie selig kann der fliegen,

Dem der Traum den Flügel schwingt,

Daß an blauer Himmelsdecke

Sterne er wie Blumen pflückt:

Schlafe, träume, flieg’, ich wecke

Bald Dich auf und bin beglückt.


- Clemens Brentano


Ausflug am 04.02.2022 in die Alte Nationalgalerie Berlin.


Endlich geht es wieder los mit "Beleben und Entspannen!"


Und diesmal in die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin. Einer Wirk- und Studienstätte meiner Studienzeit an der Freien Universität Berlin und eines meiner Lieblingsmuseen. Da wir uns noch in den Ausläufern der Corona-Zeit befinden und die Museen teilweise recht strenge, limitierende Hygieneauflagen zu erfüllen haben, habe ich mich sorgsam im Vorfeld um einen reibungslosen und leichten Ablauf bemüht. Ich besuchte das Museum, sprach mich mit den Menschen vor Ort ab, was ich bei wem und auf welcher Plattform klären muss. Da wir als Gruppe unterwegs sind, wurde ich angehalten, in zwei Klein-Gruppen im Museum unterwegs zu sein. Man behandelte uns sehr liebe- und respektvoll. Eine menschlich wertvolle Erfahrung.


Diesmal waren nahezu alle Bewohner:innen rechtzeitig bereit. Und sogar unsere eine Bewohnerin, die die letzten Male widerständig passen musste, wollte mit. Zur Vorbereitung hatte ich zahlreiche Bilder der Alten Nationalgalerie und auch die Räumlichkeiten wiederholt in der Kunsttherapie-Gruppe und im offenen Atelier vorgestellt. Zudem waren wir schon mal um das Museumsgebäude - in der Parkanlage und den Kolonnaden - unterwegs gewesen. Und einen kurzen Einblick in die Eingangshalle mit dem "Dornröschen" (1878) von L. Sussmann-Hellborn hatten wir auch schon erheischen können. Hier der Link zum Artikel: https://www.gunillagoettlicher.de/post/das-gute-sch%C3%B6ne-und-wahre-wirkt-recreationale-ausflugstherapie-zur-museumsinsel-berlin


Dennoch war ich aufgeregt: Dieses Museum im Speziellen ist ein eher elitärer Raum mit strengen Benimm-Regeln. Wie würden wir uns/ sie sich verhalten in den hohen Hallen, nah an den Originalen der Meister:innen des 19. Jahrhunderts (wo doch bei allzu viel Nähe die Alarmanlagen losgehen)? Und leibhafte Nähe brauchen die Bewohner:innen.


Ein Zuviel vermeiden (versuchen)

Um es etwas abzukürzen: es war ein lebendiges und nahezu atemberaubendes Erlebnis für uns Alle. Ich habe eine Route durch die Gänge der Kunst entlang der von den Bewohner:innen ausgesuchten Kunstwerke gesponnen. Damit es nicht zu viel Input gibt. Denn das habe ich schon von unserer Ausflugstherapie gelernt: Ein Zuviel zu vermeiden, es zumindest zu versuchen - denn ein "Zuviel" entsteht schnell, sei es durch zu viele Sinneseindrücke, zu hohe Räume, Wärme/ Kälte, zu viele Informationen etc. Und gerade ein Museum wie die Alte Nationalgalerie ist eine sinnliche Erlebniswelt par excellence.


Das Museum als sinnlicher Erlebnisraum

Dieser Erlebnisraum in seiner Gänze an unterschiedlichen sinnlichen, gedanklichen und auch emotionalen Eindrücken zu begreifen, lohnt eine eingehendere Untersuchung. Schon das Umfeld des Museums hat eine Wirkung auf den Menschen. Die Museumsinsel strahlt die Trias eines einstigen geistigen Bildungs-Ideals des 19. Jahrhunderts aus: Das des "Guten, Wahren und Schönen". Ein Ideal, das uns zu einem Besseren (Menschen/-ideal) bilden soll. Ausgehend von der griechischen Antike über die Renaissance.


Wie eine Pilgerreise

+ Das Museum selbst sieht aus wie ein griechischer Tempel und versetzt uns in eine andere Zeit - der griechischen Antike (zusätzlich zum 19. Jahrhundert). Alles hebt den Blick. Die Größe wird augenfällig.

+ Da das Museum an der Spree liegt, hat dieser Fluß auch einen Einfluß auf unser Erleben. Panta rhei - Alles fließt (nach Heraklit).

+ Der Außenbereich mit seinen Kolonnaden, seinem Park mit den wohlgefällig platzierten Skulpturen lädt unseren Blick ein zu Schweifen. Wohin soll man zuerst schauen? Oder lieber Nachsinnen, was man gesehen hat und "verdauen"?

+ Der Innenbereich des Museums ist opulent ausgestattet - von seinen Materialien, Farben und Formen her. Er zeigt eine besondere Größe und Schönheit, die man erstmal begreifen und verarbeiten muss.

+ Man muss sich "vorbereiten". Kann nicht einfach so mit Jacke, Tasche und Essen/ Trinken in die Ausstellung, die "Heiligen Hallen" des Museums.


Man ist also schon vielfältig herausgefordert worden, Sinneseindrücke zu verdauen, bis man an der Kunst ankommt.

Wie eine Pilgerreise. Mit zahlreichen Ritualen und Mühen: Vorbereitung, innere Sammlung, Fokussierung, Konzentration.


Besonders gefielen den Bewohner:innen im Vorfeld:

+ Die Lichtstimmungen bei K.F. Schinkel (den wir ja schon von seiner Architektur her kennen)

+ Die klaren, auch phantasieanregenden Kompositionen A. Böcklins (ausgewählte Werke)

+ Das sonnig unbeschwerte Lichtspiel bei C. Monet ("Der Sommer")

+ A. Rodin mit seinen griffig dynamisch, menschlichen Figuren ("Der Denker", der schon von einem Bewohner abgezeichnet wurde)

+ Die Naturmelancholie C.D. Friedrichs (ausgewählte Werke wie "Der einsame Baum")


"Mönch am Meer" - ein Sinnbild des "I feel blue"

Ich hatte mal in einem offenen Atelier ein Poster des "Mönch am Meer" (1808-1810) von C.D. Friedrich mitgebracht und zu einem Dialog über das Bild eingeladen. Und die Stimmung traf eigentlich genau das Thema bei den Bewohner:innen: "I feel blue". Es kommt jedoch darauf an, wie die Grundstimmung unter den Bewohner:innen und auch wie das Wetter, die Atmosphäre drum herum, ist. Denn bei einem Mal Betrachten und tiefer Blicken war es zu "blau", zu bedrückend. Es wurde von den meisten Bewohner:innen als "Schlechtwetterfront zieht auf" wahrgenommen. Zumal auch ein Bewohner seinen unterschwellig frustriert-wütenden Unmut (über seine eigene belastende Geschichte) vor der Gruppe zum Ausdruck brachte, und somit die Gruppendynamik entscheidend prägte. Am darauf folgenden Tag konnte ich mit anderen Bewohner:innen, die ins offene Atelier kamen, schon ganz anders darüber sprechen. Sie fanden es "anziehend". Ein Bild zum "Übers Bett hängen und lange und immer wieder drauf schauen". Ich werde es demnächst einmal wieder mitbringen - bei schönem Wetter - und bin schon gespannt, welche Reaktionen diesmal gezeigt werden. Denn: Kunst wirkt. Und immer anders, je nach dem, wie es uns geht. Daher können Kunstwerke zu "Freunden" werden, mit denen man eine fast bedingungslose, freundschaftliche Liebe ("Philia") pflegen kann. Wir "reifen" mit ihnen. Und sie werden uns "überdauern" (so hoffe ich zumindest).


Ungefiltert ist alles interessant

Ich hatte mir ersonnen, dass wir direkt zum Schinkel-Raum gehen (1. Etage, wegen der Sonderausstellung). Doch dieses Unterfangen war nicht ganz so einfach: sind es doch einfach so viele Eindrücke, die man "passieren" muss, um dorthin zu gelangen. Ich hielt sie immer wieder an, mir zu folgen. Wie neugierige, staunende Kinder scheinen sie (zu) offen für alle Eindrücke. Ungefiltert zieht alles in seinen Bann: Raumkunst mit Farben, Formen, Klängen. Und ich muss gestehen, dass ich ziemlich froh bin, als wir dann bei Schinkel ankommen.

Ein kleiner in taubenblauem Stoff ausgestatteter Raum passt herrlich zu den Schinkelgemälden mit der besonderen Lichtstimmung. Ich frage nach der atmosphärischen Wirkung der Farbe "Blau" im Raum. Und ein Bewohner sagt sofort, dass es sich um "Kornblumenblau" handeln würde. Es ist ihnen allen angenehm hier, wenn auch wieder eine Bewohnerin fröstelt. Zum Glück hat diesmal der Kollege eine Fleecejacke an, die er an die Bewohnerin weiterreichen kann. Eigentlich müssen wir immer Fleecejacke und Schals mit dabei haben. Das Wärme-Kälte-Empfinden ist oft nicht mehr adäquat einschätzbar. Mittlerweile ist uns ihr unberechenbares Verhalten vertraut.


Pro-sensuelles Herangehen an die Kunst

Wir gehen ganz unbedarft an die Gemälde heran: Gefällt das Bild? Was fällt ins Auge? Was sehen wir? Wie ist das Licht? Ein Bewohner erzählt leicht nervös von seinen Eindrücken und kommt den Bildern dabei recht nahe. Doch der Alarm bleibt aus. Alles gut. Wir entdecken, dass Originale eine besondere Aura haben und komplex - auch klimatisch - geschützt werden. Dass es so viele Details zu entdecken und zu bestaunen gibt. Jedes Bild zieht uns auf seine besondere Weise in den Bann. Mein Kollege begeistert sich und uns besonders für die edlen Holz-Rahmungen der Bilder. Ein echtes Gesamtkunstwerk. Ich merke, wie viel an Eindrücken es jetzt schon zu verarbeiten gibt. Ein Bewohner ist uns (der Gruppe) auch wieder "entkommen". Er geht gerne auf eigene Faust los. Was allerdings in diesem Museum ohne die Ticket-Codes - in den dritten Stock wegen der Sonderausstellung - nicht gut klappt. Eine Bewohnerin erkennt den Maler A. Menzel. Erinnerungen kommen. In der Querhalle staunen wir gemeinsam über die Bilder der Ideen von Antike aus dem 19. Jahrhundert. Eine Bewohnerin sieht ihr Geburtsjahr ganz klein auf einem Schild ("Erworben 19...") und zeigt freudig darauf.


Wer kann und mag noch?

In der Haupthalle wieder angekommen, machen wir Pause. Toilettengang. Eine Bewohnerin, der fröstelte, ist leicht unwohl. Mein Kollege nimmt sie raus. Sie beschäftigen sich zur Beruhigung mit näher liegenden Dingen, lachen, schäkern. Mit den Anderen gehe ich die edlen weitläufigen Treppen rauf - und merke, dass ich für's nächste Mal um den Fahrstuhl bitten möchte. Ein Bewohner ist auch leicht irritiert, weiß auf einmal nicht, wo seine Jacke ist und geht die Treppen wieder hinunter. Ich beruhige ihn, sage, dass wir uns noch A. Rodins "Denker" anschauen wollen (den er schon abgezeichnet hat), danach gehen wir nachhause. Für seine Orientierung. Die Treppen sind recht weitläufig und ihre Wirkung kann Schwindelgefühle auslösen. Ich versuche zu stützen und zu beruhigen, da zu sein. Alles gelingt, weil wir mit Bedacht und langsam machen. Doch mit Fahrstuhl ersparen wir uns diese schwindelerregende Höhe.


Harmonie durch wohlwollende Aufsichten

Im nächsten Stock finden wir die Aufsicht, die ich bei meinem ersten Besuch schon kennenlernen durfte. Wir freuen uns, uns wiederzusehen. Sie gibt uns einen kleinen Einblick in ihre Sicht auf die nun kommen Säle. Solche wohlwollenden Kontakte halte ich für sehr wichtig. Sie harmonisieren unseren Museumsbesuch. Wir bestaunen die Kuppelhalle nach Bühnenbild-Motiven K.F. Schinkels für "Die Zauberflöte" von W.A. Mozart. Link zu den Kuppeln auf der Museumsinsel:

Eine märchenhafte Welt tut sich auf. Ein Bewohner bringt auch "gespenstische" Gedanken zur Atmosphäre ein.


Impressionismus tut gut

Bei den französischen Impressionisten fühlen sich alle wohl. Eine Bewohnerin erkennt den Wert der impressionistischen Werke. Bei C. Monets Gemälde "Sommer" bleiben wir einen Moment stehen und sinnieren über die sommerliche Atmosphäre, über Licht und unzählige Lichtstimmungen im Laufe eines Tages. Dann noch einen Blick auf A. Rodins kraftvollen "Denker", der spontan von einem Bewohner nachgestellt wird.

Wir verabschieden uns von der netten Aufsichtsperson, die uns auch einen Fahrstuhl zur Verfügung stellt und in die Haupthalle zurückbringt.


Draußen sind Alle guter Dinge. Ein tolles Erlebnis. Eine üppige Erlebniswelt. Ein wenig Zuviel an sinnlichen Eindrücken, die wir als Team mit Allen - auch den Aufsichtspersonen - harmonisch gemeistert haben.


"Kommen Sie recht bald wieder!"

Mein besonderer Dank geht an mein Team - meine Bewohner:innen und meinen Kollegen - alle Beteiligten aus der Seniorenresidenz, die uns so einen wertvollen Besuch erst möglich machen. Und alle respektvoll-wohlwollenden Mitarbeiter:innen im Museum. Einer ihrer Sätze lautete beim Rausgehen: "Kommen Sie recht bald wieder!" Das wollen wir gerne tun. Wir fühlen uns eingeladen wiederzukommen.


Fazit

Eine Erfahrung von aufrichtiger Harmonie, die mir wieder zeigt, dass das "Gute, Wahre und Schöne" mit uns Menschen doch möglich ist. Wenn wir aufrichtig am Wohle des Anderen (auch an unserem) interessiert sind und auch daran, dass er/sie auf seine/ihre besondere Art Genuss und Wohlbefinden empfinden und sich daran erfreuen kann. Und jede:r mit seiner/ ihrer einzigartigen Art ernstgenommen und wertgeschätzt wird. Denn: Jede:r gehört dazu und darf sich einbringen in diese wundervolle Welt.


Danke dafür.


Impressionen


Schreiten über den roten Teppich.


Vorbereitung auf die alte Nationalgalerie:

Lieblingsbilder heraussuchen.


Der versteckte "Mönch am Meer" von C.D. Friedrich: "I feel blue"


Staunen in der Querhalle - alles ist interessant.

Was sehen wir? Was ist das für ein Licht? Fragen vor Originalen bei K.F. Schinkel.

Eigenes im Fremden entdecken - z.B. die eigene Geburtsjahreszahl.

Tiefe Einblicke in die fantasiereichen Ideen des 19. Jahrhunderts: Hier Antike.

"Der Denker" - spontan nachgestellt von einem Bewohner.

Es gibt so viel zu entdecken: Hohe Räume, Materialien, Raumkunst neben Kunstwerken.

Ein Bewohner fing einige verblüffende Details mit seinem recht neuen Handy ein.



"Geschichten erfinden": Collage mit Bildern aus der Alten Nationalgalerie - wie wir hinterher mit den Eindrücken weiterarbeiten (rezeptive Kunsttherapie)

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